Ein Interview mit dessen Gründer Valentin Thurn

Von Haus aus ist Valentin Thurn Filmemacher, ein Wunsch, den er sich nach einigen anderen Berufstätigkeiten im Laufe seines Lebens erfüllt hat. Über die Recherchen zu seinen Dokumentationen ist er immer wieder auf Sachlagen gestoßen, die nicht dem Wohle unseres Planeten und dessen Populationen dienen. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit von Transformationsprozessen, die eine nachhaltige Veränderung bewirken. Mit dem Kinofilm „Taste the Waste – Die globale Lebensmittelverschwendung“ traf er 2011 einen Nerv. Es war ihm nicht genug, mit dem Film Anregungen für andere zu geben. Er wurde Mitbegründer des Foodsharing e. V., der sich der Lebensmittelrettung verschrieben hat.
Im Jahr 2015 gelang ihm ein weiterer Kinoerfolg mit der Dokumentation „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“.  Doch mit ausgewogener und wahrheitsgemäßer Berichterstattung, mit Lösungsvorschlägen, wie man Missstände beseitigen könnte, war es für ihn allein nicht getan. Er wollte einen Ernährungsrat nach US-amerikanischem Vorbild initiieren, der konkret mit handelnden Personen eine Verbesserung bewirkt.

Im Vorfeld seines nächsten Kinofilms „Träum weiter! Sehnsucht nach Veränderung“ , der am 30. September 2021 bundesweit startet, befragte die Journalistin Helga Fitzner Valentin Thurn nicht nur zum Film, sondern auch zum Ernährungsrat Köln und Umgebung (ER).

 

Helga Fitzner
Haben Sie sich mit der Gründung des ER Köln und Umgebung im Jahr 2016 einen „Traum“ erfüllt?
Valentin Thurn
Ja, das kann man sagen. Ich wollte eine gesellschaftliche Entwicklung anstoßen. Da habe ich meine Rolle als Filmemacher verlassen und nutzte den Wind, der durch den Kinostart von „10 Milliarden – Wie werden wir alle satt?“ entstanden war.
H. F.
Die Gründung des ER Köln und Umgebung hatte eine ziemliche Beispielwirkung. Wie viele Ernährungsräte gibt es mittlerweile?
Valentin Thurn
40 Ernährungsräte in Deutschland und noch mal um die 20, die sich in der Gründungsphase befinden. Das ist explosionsartig verlaufen.
H. F.
Es gibt etliche Menschen, die glauben, dass man innerhalb des bestehenden Systems nichts mehr bewegen könne.
Valentin Thurn
Ich würde das anders formulieren. Man kann innerhalb des bestehenden DENKsystems durchaus etwas ändern. Das bestehende Wirtschaftssystem basiert allerdings auf der Aussage, dass es keine Alternative dazu gäbe. Aber wenn wir grundsätzliche, neue Ansätze verwirklichen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, dieses Grundgebäude zu verändern. Das gelingt nur, wenn wir auch bereit sind, alte Zöpfe abzuschneiden.
H. F.
Das wird ziemlichen Widerstand von den Träger:innen dieser Zöpfe hervorrufen. – Selbst wenn Ihnen die Realisierung dieses „Traums“ gelungen ist, kann das manchmal auch anstrengend sein
Valentin Thurn
Auch als „Traum“ ist der ER noch lange nicht Bullerbü (ein fiktiver, paradiesischer Ort für Kinder, den die schwedische Autorin Astrid Lindgren ersonnen hat). Es ist tatsächlich so, dass wir mit einer sehr schwerfälligen Stadtverwaltung zusammenarbeiten. Beim Klimarat könnte man manchmal verzweifeln. Und die Verwaltung steht teilweise, irgendwie auch nachvollziehbar, auf dem Standpunkt, dass wir ihr nicht noch mehr Arbeit aufhalsen sollen, weil die eh schon zu wenig Personal haben. Die verwalten oft nur noch den Mangel. Dann gibt es aber wieder Einzelne bei der Stadt Köln, die Elan haben und wirklich etwas tun wollen. Die beißen sich zwar manchmal die Zähne an den Kolleg:innen aus, aber dann geschieht doch mal wieder etwas.
H. F.
Trotzdem ist der ER Köln und Umgebung eine große Erfolgsgeschichte.
Valentin Thurn
Wir in Köln hatten zu Anfang das Glück, dass wir schon Amtsleiter:innen hatten, die befürworteten, dass sie uns die Grundfinanzierung für eine Stelle genehmigen würden, damit jemand Projektgelder von außen hereinholen konnte. Das hat auch wirklich geklappt, inzwischen haben wir acht Angestellte. Das ist wahnsinnig schnell gewachsen. Nicht, dass wir sagen könnten, wir haben die Stadt Köln revolutioniert, die ist wie ein schwer beweglicher Tanker, aber im Kleinen konnten wir viel erreichen. Was bei den urbanen Gärten passiert ist, ist unglaublich. Gerade da war das Amt am Anfang sehr, sehr zurückhaltend. Aber das hat sich gelöst. Weil wir auch in den anderen Ausschüssen immer so einen Projektmodus haben, bei dem es egal ist, welche Parteifarbe jemand in der Verwaltung hat. Wir arbeiten mit allen. Bei den größeren Geschichten, wie dem Klimafußabdruck der Stadt, da sind wir noch lange nicht am Ziel.
H. F.
Da ist es gut, dass es so viele Ernährungsräte gibt und einige schon sehr erfolgreich sind.
Valentin Thurn
Ja, es kann sein, dass der Kölner bald nicht mehr der einzige Ernährungsrat ist, der so schlagkräftig ist. Viele haben in enger Zusammenarbeit mit ihren Stadtverwaltungen etwas erreicht, sich aber nicht kaufen lassen. Die sind gesellschaftlich unabhängig aufgestellt.
H. F.
Ist der ER Köln abhängig von der Stadtverwaltung?
Valentin Thurn
Finanziell ja.
H. F.
Oh.
Valentin Thurn
Aber wir sind organisatorisch und entscheidungstechnisch fast überhaupt nicht verbandelt. Nur ein Vertreter der Stadt ist Mitglied im Verein. Wir konnten das machen, weil wir keine Lobby-Gruppe sind. Wir müssen auch nicht in der Presse die Stadt kritisieren, das machen andere. Das ist auch wichtig, aber wir sehen uns eher als etwas leisere Organisation. Wie kriegen wir hin, dass in Supermarktregalen z. B. Platz für Biobrot und regional erzeugtes Brot ist. Das war nicht so verbreitet. Für solche Sachen haben wir Konzepte entwickelt und Anträge gestellt. Wir wollen auch versuchen, die Stadt dazu zu bringen, selber etwas wie die „Kantine der Zukunft“ zuzulassen, wie die Berliner das machen, die beraten öffentliche Kantinen bei der Umstellung auf Regional und Bio.
H. F.
In Köln lässt sich eine „Kantine der Zukunft“ also nicht durchsetzen?
Valentin Thurn
Das haben wir noch nicht geschafft. Obwohl die Beschlüsse des städtischen Klimarats genau in die Richtung weisen. Aber das heißt leider noch lange nicht, dass das auch wirklich umgesetzt wird. Eigentlich eine Frechheit. Da sind viele Sachen ausgerufen worden mit viel Engagement, wenn es aber ans Umsetzen geht, haben die Verantwortlichen gebremst, wo sie nur bremsen konnten. Da rächt sich, dass der Klimarat nicht breitflächig besetzt wurde. Wir engagieren uns gerade von Seiten der Ernährungsräte für einen bundesweiten „Bürger:innenrat Ernährung“, der am besten von Regierung und Parlament in Auftrag gegeben wird. Wir haben schon mitgearbeitet im „Bürgerrat Klima“, der aber privat organisiert war, da konnten wir prima Erfahrungen machen. Das fänden wir eine sehr schöne Ergänzung zur doch etwas verschnarchten parlamentarischen Demokratie. Es werden bei solchen Bürger:innenräten mehrere hundert Bürger:innen ausgelost, die aus dem Einwohnermelderegister entnommen werden. Dadurch kommen sehr viele unterschiedliche Menschen zusammen und man ist breit aufgestellt. Das wollen wir auch für die Ernährung hinkriegen. Die direkte Diskussion ermöglicht es, sogar bei Tabuthemen weiterzukommen. Zum Beispiel: Landwirt:innen sollen ökologisch anbauen und keine Pestizide verwenden. Das geht aber nur, wenn sie auch leistungsgerecht bezahlt werden. Gleichzeitig muss man sich Gedanken darüber machen, wie das bessere Essen auch erschwinglich bleibt.
H. F.
Es geht schlussendlich doch aber um so viel mehr als um Ernährung. Wir müssen den Planeten schonen.
Valentin Thurn
Wir stoßen immer mehr Klimagase aus und ich habe in dem bestehenden System kaum Hoffnung auf Abhilfe. Es gibt zwar kleine Änderungen, die in die richtige Richtung gehen, aber was wir in den nächsten zehn Jahren brauchen – wie ein starkes Schrumpfen unserer Emissionen – ist in dieser Form nicht gewährleistet.
H. F.
Die EU bevorzugt in ihren Agrarreformen immer noch die Großbetriebe und damit z. B. die Massentierhaltung und Monokulturen. Die könnten mit ihren Subventionen – der Wille vorausgesetzt – eine ökologische Agrarwende unterstützen.
Valentin Thurn
DIE hätten die Macht.
H. F.
Nutzen sie aber kaum dafür. – Würde es eigentlich ausreichen, wenn ein großer Teil der Weltbevölkerung, sagen wir vier Milliarden, seinen persönlichen ökologischen Fußabdruck reduzieren würde? Oder sind es letztendlich die Industrien als die wesentlich größeren Umweltschädiger, die das effektiv bewerkstelligen könnten.
Valentin Thurn
Vor allem die Industrien natürlich. Das ist ein Prozess, der in beide Richtungen geht. Wir brauchen die Bereitschaft zu erkennen, dass wir mit Lösungen in diesem System verharren. Eine wirksame Reduktion z.B. von schädlichen Emissionen lässt sich nicht innerhalb eines Systems realisieren, das auf Wachstum beruht. Wir müssen aus diesem Wachstumszwang herauskommen.
H. F.
Ist Degrowth, also die Verringerung von übermäßiger Produktion und Konsum, der Weg?
Valentin Thurn
Degrowth ist der Weg. Ja, da gibt es überhaupt keine andere Wahl. Es geht gar nicht anders. Im schlimmsten Fall lernen wir erst durch Katastrophen. Im besten Fall schaffen wir es, bevor weitere verheerende Dinge geschehen, eine Denke zu entwickeln, die den Gang der westlichen Zivilisation ändert. Das ist eine Herausforderung. Jede:r will eine Veränderung von oben, wichtiger ist vielleicht eine Änderung der Denke, die von unten kommt. Das kann man auf unterschiedlichen Wegen erreichen, aber ich glaube, um dahin zu kommen, müssten Menschen sich erst einmal aus ihrer Komfortzone bewegen.
H. F.
Ich habe bei Treffen mit Mitgliedern des ER und seiner Ausschüsse nur derartige Leute erlebt. Da ist jede:r informiert und engagiert. Wie Sie schon erwähnten, gilt das auch für einige aus der Stadtverwaltung. So traurig es ist, wir wissen alle, dass wir es uns nicht leisten können, den Mut zu verlieren. Deswegen freue ich mich übrigens schon auf Ihren neuen Film „Träum weiter!“, weil Sie dort Leute vorstellen, die ihre Träume leben und dadurch Zuversicht verbreiten. Aber eine Patentlösung zur Rettung der Welt haben sie nicht.
Valentin Thurn
Es gibt keine Methode, mit einem Fingerschnippen das Große und Ganze zu retten. Das Träumen ist ein Rezept, in dem sich jede:r im eigenen Bereich entwickeln kann und die gewohnten Pfade verlassen. Das ist die Voraussetzung, dass die Welt gerettet werden kann, aber es gibt nicht eine einzige Lösung, sondern tausende, hunderttausende dafür an ganz vielen Stellen.
H. F.

Ich danke für dieses Interview. Ich werde auch versuchen, weiter zu träumen. Bis demnächst, vielleicht ja schon in Bullerbü.

Das Gespräch führte Helga Fitzner am 30. Juli 2021

Ernährungsrat Köln