Valentin Thurn
40 Ernährungsräte in Deutschland und noch mal um die 20, die sich in der Gründungsphase befinden. Das ist explosionsartig verlaufen.
H. F.
Es gibt etliche Menschen, die glauben, dass man innerhalb des bestehenden Systems nichts mehr bewegen könne.
Valentin Thurn
Ich würde das anders formulieren. Man kann innerhalb des bestehenden DENKsystems durchaus etwas ändern. Das bestehende Wirtschaftssystem basiert allerdings auf der Aussage, dass es keine Alternative dazu gäbe. Aber wenn wir grundsätzliche, neue Ansätze verwirklichen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, dieses Grundgebäude zu verändern. Das gelingt nur, wenn wir auch bereit sind, alte Zöpfe abzuschneiden.
H. F.
Das wird ziemlichen Widerstand von den Träger:innen dieser Zöpfe hervorrufen. – Selbst wenn Ihnen die Realisierung dieses „Traums“ gelungen ist, kann das manchmal auch anstrengend sein
Valentin Thurn
Auch als „Traum“ ist der ER noch lange nicht Bullerbü (ein fiktiver, paradiesischer Ort für Kinder, den die schwedische Autorin Astrid Lindgren ersonnen hat). Es ist tatsächlich so, dass wir mit einer sehr schwerfälligen Stadtverwaltung zusammenarbeiten. Beim Klimarat könnte man manchmal verzweifeln. Und die Verwaltung steht teilweise, irgendwie auch nachvollziehbar, auf dem Standpunkt, dass wir ihr nicht noch mehr Arbeit aufhalsen sollen, weil die eh schon zu wenig Personal haben. Die verwalten oft nur noch den Mangel. Dann gibt es aber wieder Einzelne bei der Stadt Köln, die Elan haben und wirklich etwas tun wollen. Die beißen sich zwar manchmal die Zähne an den Kolleg:innen aus, aber dann geschieht doch mal wieder etwas.
H. F.
Trotzdem ist der ER Köln und Umgebung eine große Erfolgsgeschichte.
Valentin Thurn
Wir in Köln hatten zu Anfang das Glück, dass wir schon Amtsleiter:innen hatten, die befürworteten, dass sie uns die Grundfinanzierung für eine Stelle genehmigen würden, damit jemand Projektgelder von außen hereinholen konnte. Das hat auch wirklich geklappt, inzwischen haben wir acht Angestellte. Das ist wahnsinnig schnell gewachsen. Nicht, dass wir sagen könnten, wir haben die Stadt Köln revolutioniert, die ist wie ein schwer beweglicher Tanker, aber im Kleinen konnten wir viel erreichen. Was bei den urbanen Gärten passiert ist, ist unglaublich. Gerade da war das Amt am Anfang sehr, sehr zurückhaltend. Aber das hat sich gelöst. Weil wir auch in den anderen Ausschüssen immer so einen Projektmodus haben, bei dem es egal ist, welche Parteifarbe jemand in der Verwaltung hat. Wir arbeiten mit allen. Bei den größeren Geschichten, wie dem Klimafußabdruck der Stadt, da sind wir noch lange nicht am Ziel.
H. F.
Da ist es gut, dass es so viele Ernährungsräte gibt und einige schon sehr erfolgreich sind.
Valentin Thurn
Ja, es kann sein, dass der Kölner bald nicht mehr der einzige Ernährungsrat ist, der so schlagkräftig ist. Viele haben in enger Zusammenarbeit mit ihren Stadtverwaltungen etwas erreicht, sich aber nicht kaufen lassen. Die sind gesellschaftlich unabhängig aufgestellt.
H. F.
Ist der ER Köln abhängig von der Stadtverwaltung?
Valentin Thurn
Finanziell ja.
H. F.
Oh.
Valentin Thurn
Aber wir sind organisatorisch und entscheidungstechnisch fast überhaupt nicht verbandelt. Nur ein Vertreter der Stadt ist Mitglied im Verein. Wir konnten das machen, weil wir keine Lobby-Gruppe sind. Wir müssen auch nicht in der Presse die Stadt kritisieren, das machen andere. Das ist auch wichtig, aber wir sehen uns eher als etwas leisere Organisation. Wie kriegen wir hin, dass in Supermarktregalen z. B. Platz für Biobrot und regional erzeugtes Brot ist. Das war nicht so verbreitet. Für solche Sachen haben wir Konzepte entwickelt und Anträge gestellt. Wir wollen auch versuchen, die Stadt dazu zu bringen, selber etwas wie die „Kantine der Zukunft“ zuzulassen, wie die Berliner das machen, die beraten öffentliche Kantinen bei der Umstellung auf Regional und Bio.
H. F.
In Köln lässt sich eine „Kantine der Zukunft“ also nicht durchsetzen?
Valentin Thurn
Das haben wir noch nicht geschafft. Obwohl die Beschlüsse des städtischen Klimarats genau in die Richtung weisen. Aber das heißt leider noch lange nicht, dass das auch wirklich umgesetzt wird. Eigentlich eine Frechheit. Da sind viele Sachen ausgerufen worden mit viel Engagement, wenn es aber ans Umsetzen geht, haben die Verantwortlichen gebremst, wo sie nur bremsen konnten. Da rächt sich, dass der Klimarat nicht breitflächig besetzt wurde. Wir engagieren uns gerade von Seiten der Ernährungsräte für einen bundesweiten „Bürger:innenrat Ernährung“, der am besten von Regierung und Parlament in Auftrag gegeben wird. Wir haben schon mitgearbeitet im „Bürgerrat Klima“, der aber privat organisiert war, da konnten wir prima Erfahrungen machen. Das fänden wir eine sehr schöne Ergänzung zur doch etwas verschnarchten parlamentarischen Demokratie. Es werden bei solchen Bürger:innenräten mehrere hundert Bürger:innen ausgelost, die aus dem Einwohnermelderegister entnommen werden. Dadurch kommen sehr viele unterschiedliche Menschen zusammen und man ist breit aufgestellt. Das wollen wir auch für die Ernährung hinkriegen. Die direkte Diskussion ermöglicht es, sogar bei Tabuthemen weiterzukommen. Zum Beispiel: Landwirt:innen sollen ökologisch anbauen und keine Pestizide verwenden. Das geht aber nur, wenn sie auch leistungsgerecht bezahlt werden. Gleichzeitig muss man sich Gedanken darüber machen, wie das bessere Essen auch erschwinglich bleibt.
H. F.
Es geht schlussendlich doch aber um so viel mehr als um Ernährung. Wir müssen den Planeten schonen.
Valentin Thurn
Wir stoßen immer mehr Klimagase aus und ich habe in dem bestehenden System kaum Hoffnung auf Abhilfe. Es gibt zwar kleine Änderungen, die in die richtige Richtung gehen, aber was wir in den nächsten zehn Jahren brauchen – wie ein starkes Schrumpfen unserer Emissionen – ist in dieser Form nicht gewährleistet.
H. F.
Die EU bevorzugt in ihren Agrarreformen immer noch die Großbetriebe und damit z. B. die Massentierhaltung und Monokulturen. Die könnten mit ihren Subventionen – der Wille vorausgesetzt – eine ökologische Agrarwende unterstützen.
Valentin Thurn
DIE hätten die Macht.
H. F.
Das Gespräch führte Helga Fitzner am 30. Juli 2021